Unkraut ist nützlich!
Plädoyer für Wildwuchs
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Ein Warnschild 'Vorsicht Unkraut!' in der Fährhausstraße |
In Zeiten des Klimawandels ist sie seltener geworden, die Klage im Lokalteil der Bild in nassen Sommern: 'Hilfe, das Unkraut wuchert meterhoch und keiner kümmert sich.'
Dabei geht es nicht um Löwenzahn, dessen Pusteblumen das gefällige Mauve des Lavendels stören, auch nicht um die Zaunrübe, die sich erdreistet, Buchsbaumhecken zu überwuchern. Vielmehr geht es um das Straßenbegleitgrün, jene Pioniere, die Trockenheit, Streusalz und Autoabgasen widerstehen und auf Sand und Schotter der Straßenränder und Verkehrsinseln überleben.
Pioniere der Verkehrsinseln
Dieses Kunststück schaffen nur wenige Pflanzenarten, man nennt sie Ruderalpflanzen. Einige sind unansehnlich und unauffällig, andere blumentopfwürdige Schönheiten, in Ungnade gefallene Nutz- und Heilpflanzen. Und es gibt sogar einen Kriegsgewinnler: das Weidenröschen Epilobium, das nach dem Krieg die Ruinenlandschaften der Städte mit seinen roten Blüten übertuschte und seither auch Trümmerblume heißt.
Botanikpöbel mit Qualität
Aus den Wurzeln der Wegwarte Cichorium intybus aus der Familie der Korbblütengewächse ließ sich ein Kaffeesurrogat herbeirösten, das es letztlich jedoch mit dem echten Kaffee nicht aufnehmen konnte. Ebenso wenig konkurrenzfähig war das Seifenkraut Saponaria, das nach der Erfindung des Waschpulvers an Ansehen einbüßte und an den Straßenrand verbannt wurde, zum Beispiel rund um die Ampel Herderstraße Ecke Grillparzerstraße. An einer Hecke am Spielplatz Birkenau gedieh jahrelang Humulus lupulus, die Wildform jenes Hopfens, der in der Holledau an sechs Meter hohen Schnüren wächst und dessen Blütenstände das Bier würzen.
Leinkraut (l.), Zottiges Weidenröschen (r.)
An einem Parkplatz in der Schumannstraße malträtieren Autoreifen die Käsepappel Malva neglecta, die ihre Bedeutungslosigkeit bereits im Namen führt ("neglecta" = die Vernachlässigte).
Ein Aschenputtel der Botanik, nie würden Autofahrer es wagen, ihre adlige Schwester, die Gartenmalve, zu überfahren. Aber mit dem Unkraut kann man's ja machen.
Das Leinkraut Linaria vulgaris ist auch so ein Aschenputtel. Seine in den Botanikhochadel aufgestiegene Verwandte ist das Löwenmäulchen. Das Leinkraut dagegen fristet sein ephemeres Dasein am Straßenrand, gedüngt einzig durch Bremsabrieb und Hundepipi.
Ein Wanderer zwischen Outlaw und Upper Class ist das Schöllkraut Chelidonium majus. Es siedelt gern in ungepflegten Gärten und lässt sich nur schwer vertreiben. Dabei war und ist es eine geschätzte Heilpflanze: Der gelbe Saft lässt Warzen verschwinden. Überdies wird das Kraut gewerblich angebaut, weil es Iberogast-Magentropfen veredelt.
Plantago media, der Mittlere Wegerichts vom Wegesrand, dient gar der Zukunftsforschung: Die Anzahl der aus einem abgerissenen Blattstiel ragenden Blattnerven gibt Auskunft darüber, wie viele Kinder man haben werde. Doch vermutlich weil stets einer oder zwei Fäden herausragen, wurde das Wegericht-Orakel nie richtig populär.
Bienenfreundliches Scharbockskraut
Bienen lieben Unkraut
Manche Ruderalpflanzen wie Steinklee und Nachtkerze sind zu gar nichts nütze. Wer nach Scharbockskraut googelt, erfährt als Erstes, wie er es wieder loswird. Es wuchert wild vor sich hin und provoziert die Ordnungsliebe des Spaziergängers, weshalb rot-weißes Flatterband und in Prospekthüllen eingeschweißte Hinweisblätter im Park am Goldbekufer informieren: "Dies ist keine Unkrautwüste, sondern eine Blühwiese für unsere Insekten."
Denn spontan sich ansiedelnde Ruderalpflanzen sind meist die Spezies, die Insekten als Futterpflanzen für ihre Entwicklung benötigen. So wie beispielsweise der Nachtkerzenschwärmer, der dort vermutet wird, wo Gruner + Jahr ein neues Verlagsgebäude plant. So wie Schmetterlinge haben es auch Wildbienen schwer, denn manche Arten können nur 200 Meter weit fliegen und bevorzugen eine einzige Futterpflanze. Von Amts wegen gepflanztes Begleitgrün wie Kirschlorbeer oder Knallerbsenstrauch gehört nicht dazu.
Bildergalerie
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Autor: Olaf Witt
Fotos: Olaf Witt
HBZ · 09/2021
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