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Wohnungsbau versus Ökologie und Klima

Oberbillwerder - ein umstrittenes Projekt

Heute: der künftige Stadtteil Oberbillwerder von der S-Bahn-Station Allermöhe aus, Foto: (c) R. Schwarz/stahlpress
Heute: der künftige Stadtteil Oberbillwerder von der S-Bahn-Station Allermöhe aus, Foto: (c) R. Schwarz/stahlpress

Auf bisher nur landwirtschaftlich genutzten Flächen im Bezirk Bergedorf soll ab 2024 ein neuer Stadtteil wachsen: Oberbillwerder.

Das nördlich der S-Bahnlinie S21 mit der Station "Allermöhe" gelegene Gelände umfasst rund 118 Hektar - etwa die sechsfache Größe der Binnenalster. Im Jahr 1910 kaufte die Stadt Hamburg das Gebiet von den örtlichen Bauern, die sich leider nicht lange an dem Geschäft erfreuen konnten: Die Inflation von 1923 vernichtete den Geldsegen, stattdessen mussten sie Pacht an die Hansestadt entrichten.

Heute ist Oberbillwerder Teil des ehrgeizigen Wohnungsbauprojekts des rot-grünen Senats, das den Wohnungsmarkt entlasten soll. Insgesamt sollen hier 6.000 bis 7.000 Wohnungen für ca. 15.000 Menschen entstehen, 5.000 Arbeitsplätze, zwei Grundschulen, ein Campus mit Stadtteilschule und Gymnasium, bis zu 14 Kindertagesstätten (Kitas) sowie ein Bildungs- und Begegnungszentrum.

'Den Menschen ins Zentrum rücken'

Der Anspruch ist hoch: Durch "innovative, moderne und vollumfängliche Konzepte" sollen die "Menschen ins Zentrum des Geschehens rücken". Oberbillwerder soll "zu einem gut angebundenen, vielfältigen und in der Nutzung gemischten Stadtteil werden, der sich nahtlos in die Umgebung einbettet". Die Mehrfachnutzung von Flächen soll bei "vielseitigen Angeboten für Arbeit, Bildung, Kultur, Freizeit, Sport und Erholung" den Flächenverbrauch insgesamt verringern. So sollen z. B. die Außenflächen der Schulen außerhalb der Schulzeit für die freizeitliche Nutzung öffentlich zugänglich sein - alles andere als eine Selbstverständlichkeit im Hamburger Stadtgebiet. Attraktive Rad- und Fußwege und ein gut ausgebauter ÖPNV sollen in Verbindung mit sogenannten Mobility Hubs, an denen rund 5.000 Parkplätze konzentriert werden, den Verkehr eindämmen und den öffentlichen Raum weitgehend frei von parkenden Autos halten.

Entsprechend dem "Drittel-Mix" werden zu rund einem Drittel geförderte Sozialwohnungen entstehen, ein weiteres Drittel frei finanzierter Wohnraum sowie ein Drittel in Eigentum, darunter auch Eigenheime. "Oberbillwerder soll Raum und Heimat für unterschiedliche, nach Herkunft, Einkommen, Alter und Lebenslage gut gemischte Bevölkerungsgruppen bieten und mit qualitätsvollen Bauprojekten von Genossenschaften, Baugruppen, privaten und städtischen Bauträgern lebendige Nachbarschaften schaffen", heißt es in dem 2019 veröffentlichten Masterplan.

Kritik an den Plänen

Darin war noch von einer 124 Hektar großen Fläche die Rede. Diese wurde jedoch nach Protesten gegen die Planungen mittlerweile an den Rändern um sechs Hektar reduziert, um Teile der Kulturlandschaft zu erhalten. Denn es gibt ernsthafte Gegner des Projekts. So reichte im Jahr 2019 eine Initiative, deren Mitglieder vor allem aus dem Dorf Billwerder stammen, das Bürgerbegehren "Vier- und Marschlande erhalten!" ein.

Die Initiative kritisiert, dass eine alte Kulturlandschaft zerstört und die Überbauung des feuchten Marschlandes sich negativ auf das Stadtklima auswirken werde. Jan Diegelmann von der Dorfgemeinschaft Billwärder an der Bille: "Feuchte Marschflächen wie Billwerder tragen zur Verbesserung des Stadtklimas bei, indem durch die Verdunstung Kälte entsteht, die zur Kühlung der Großstadt beiträgt, was gerade in heißen Sommern von großer Bedeutung ist. Zugebaute und zubetonierte Flächen speichern hingegen tagsüber die Hitze und geben sie nachts wieder ab, mit entsprechenden Folgen für das Stadtklima." Es gebe "genügend Grundstücke, die bebaut werden könnten, ohne damit ökologisch und klimatisch bedeutsame Grünareale zu zerstören".

Getrübte Dorfidylle: Plakat an einem Haus in Billwerder, Foto: (c) Reinhard Schwarz/stahlpress
Getrübte Dorfidylle: Plakat an einem Haus in Billwerder, Foto: (c) Reinhard Schwarz/stahlpress

Ungewöhnliche Einheit

Zuspruch erhielt die Initiative von einer ungewöhnlichen Koalition aus Linken, der CDU und dem Naturschutzbund Deutschland (NABU). So kritisierte der Bürgerschaftsabgeordnete Stephan Jersch (Linke) 2019 die "sinnlose Flächenversiegelung" durch "Betonmahnmale wie Oberbillwerder". Und in einem Antrag der Bergedorfer CDU vom Februar 2020 in der Bezirksversammlung heißt es: "Das Projekt Oberbillwerder widerspricht […] dem Grundsatz des Vorrangs der Innenentwicklung vor der Außenentwicklung. Wohnen auf der ehemaligen grünen Wiese hat deutliche Nachteile gegenüber der Innenentwicklung. Dabei sind exemplarisch die zusätzliche Versiegelung und die zusätzlich nötige Infrastruktur zu nennen."

Christian Gerbich vom NABU wiederum weist auf die Bedeutung des "einzigen verbliebenen durchgängigen Landschaftskorridors zwischen Geest und Elbe" hin, der durch die geplante Bebauung zerstört werde. Dies habe negative Auswirkungen auf den "Frischluftkorridor" in der "Bille- Landschaftsachse". Zwar räumt Gerbich ein, dass es sich "bei den überplanten Flächen in erster Linie […] um intensiv genutzte Äcker" handele. Doch er gibt zu bedenken: "Eine freie Fläche, die bebaut wird, ist für immer verloren." Ein Acker habe "immer noch das Potenzial, im Sinne des Klima- und Naturschutzes sowie für die Erholung entwickelt zu werden". In die Klimabilanz müsse darüber hinaus die Gewinnung, der Transport und die Aufschüttung erheblicher Sandmengen zur Erhöhung des Baugeländes einbezogen werden.

Aufwertung von Naturflächen geplant

Hingegen betonen Mitglieder der rot-grünen Regierungskoalition, dass dem Umwelt- und Klimaschutz weitgehend Rechnung getragen werde. Sonja Lattwesen, Sprecherin für Stadtentwicklung der Grünen Fraktion Hamburg, sagte dazu: "Angesichts der starken und gesamtstädtischen Flächennutzungskonflikte unterstützt die Grüne Fraktion Hamburg das Vorhaben Oberbillwerder - gewiss jedoch unter Voraussetzung besonderer Beachtung ökologischer Aspekte." Der 2019 verabschiedete gültige Masterplan habe Kritikpunkte der Bürgerinitiative "umfänglich berücksichtigt", so Lattwesen: "Für den Wohnungsbau werden dort nur Flächen mit einem niedrigen Biotopwert verwendet, zugleich findet eine Aufwertung der Naturflächen statt. Maßnahmen gegen die Klimakrise, wie zum Beispiel die Vorbereitung auf Starkregenereignisse, sind ebenfalls Teil des Konzeptes für Oberbillwerder."

Laut Katja Kramer, Fraktionsvorsitzende der SPD in der Bergedorfer Bezirksversammlung, bot das Bürgerbegehren "keine überzeugende Antwort auf die Frage, wo die dringend benötigten Wohnungen gebaut werden sollen, die die zu uns ziehenden Menschen suchen und brauchen, um bezahlbar und gut wohnen zu können". Auch sie betont, dass die neu entstehenden Grünflächen gegenüber der jetzigen Nutzung eine ökologische Aufwertung darstellen würden. Auch "das geplante umfangreiche System zur Regenrückhaltung" stelle "eine Verbesserung zur heutigen Situation" dar und werde "den Binnenhochwasserschutz verbessern". Der neue Stadtteil werde darüber hinaus klimaneutral werden.

So stellen sich die Planer den neuen Stadtteil nach der Fertigstellung vor, Foto: (c) IBA Hamburg
So stellen sich die Planer den neuen Stadtteil nach der Fertigstellung vor, Foto: (c) IBA Hamburg

Angenommen - und abgeschmettert

Gleichwohl war das Bürgerbegehren im ersten Schritt erfolgreich: Die Bezirksversammlung stimmte diesem im Juni 2020 zu und forderte den Bezirksamtsleiter auf, sich gegen die Umsetzung des Masterplans für Oberbillwerder einzusetzen. Zugleich verhinderte die Zustimmung - in deren Rahmen sich SPD, Grüne und FDP enthielten - einen anschließenden Bürgerentscheid. Diegelmann dazu: "Im Prinzip kann man es so sehen, dass durch die Zustimmung der Bezirksversammlung Bergedorf unser Bürgerbegehren ausgehebelt wurde."

Zwar schrieb der Bezirksamtsleiter auftragsgemäß an den Senat. Doch dieser hielt unter Berücksichtigung der "Gesamtsituation der Stadt" und der "verschiedenen Interessenlagen […] die Entwicklung des neuen Stadtteils in Oberbillwerder weiterhin für richtig". Das Großprojekt wird deshalb weiter vorangetrieben.

Ein schwieriger Spagat

Konflikte wird es in Sachen Stadtentwicklung allerdings auch weiter geben, nicht nur in Bezug auf Oberbillwerder. Aktuell wollen Aktive des Volksbegehrens "Rettet Hamburgs Grün - Klimaschutz jetzt!" sogar erreichen, dass künftig keine "großflächigen Grün- und Landwirtschaftsflächen" mehr als Baugebiete ausgewiesen werden.

Doch im Juni 2022 rief der Senat das Hamburgische Verfassungsgericht an, um das Volksbegehren als nicht verfassungsgemäß zu untersagen. Denn wäre es erfolgreich, so würde dies Hamburgs Pläne in Sachen Wohnungsbau und Stadtentwicklung stark behindern. Laut Begründung des Senats würde das "zu einer nahezu vollständigen Beschränkung der Planungsrechte von Bürgerschaft und Senat in Bezug auf die unbeplanten Flächen in Hamburg" führen. Der Bedarf an Wohnfläche, Landschafts-, Natur und Klimaschutz stehen in einer wachsenden, räumlich begrenzten Stadt wie Hamburg in einem schwer auszubalancierenden Widerspruch.

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Autor: Reinhard Schwarz
Fotos: Reinhard Schwarz/stahlpress, Visualisierungen (c) IBA Hamburg

HBZ · 09/2022
 
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